Wenn dein Partner oder deine Partnerin dich ständig als Narzisst bezeichnet, kann dies tiefe Selbstzweifel auslösen und dein Selbstwertgefühl untergraben. Erfahre, wie du zwischen berechtigter Selbstreflexion und manipulativen Anschuldigungen unterscheiden kannst und finde den Weg zurück zu einem gesunden Selbstbild.
Von Torsten Geiling
"Du bist eine Narzisstin!" Als Julia diesen Satz von ihrem Mann zum ersten Mal hörte, lachte sie noch. Beim zehnten Mal begann sie zu recherchieren. Beim zwanzigsten Mal kam sie zu mir in die Beratung – mit der verzweifelten Frage: "Bin ich vielleicht wirklich schuld an unserer schlechten Beziehung? Bin ich das Monster?"
Wenn Persönlichkeit zur Waffe wird
"Mein Mann hat angefangen, jedes meiner Verhaltensweisen als narzisstisch zu bezeichnen", erzählt die 43-jährige Lehrerin in unserem ersten Gespräch. "Dass ich nach der Arbeit eine Stunde für mich brauche? Narzisstische Selbstbezogenheit. Dass ich bei Streit manchmal weine? Narzisstische Manipulation durch emotionale Erpressung. Sogar wenn er nachts ohne mich um die Häuser zieht – das sei nur , weil er sich wegen ihrer narzisstischen Selbstinszenierung abgrenzen und abreagieren müsse.
Julias Fall ist kein Einzelfall. In meinen Coachings sehe ich immer häufiger Menschen, die durch Narzissmus-Vorwürfe ihres Partners oder ihrer Partnerin in tiefe Selbstzweifel gestürzt werden. Der Begriff, einst ein klinischer Fachterminus, hat durch soziale Medien eine beispiellose Popularisierung erfahren – mit problematischen Folgen. Ähnlich verhält es sich mit dem Wort "toxisch". Mittlerweile ist ja alles und jeder toxisch oder narzisstisch.
Populärpsychologie vs. psychologische Realität
Die narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) ist eine psychische Erkrankung. Sie betrifft etwa 0,5 bis 6 % der Allgemeinbevölkerung, wobei die Ausprägung je nach Diagnosekriterien variiert. Ihre Hauptmerkmale sind:
• Grandiosität:
Übersteigerte Selbstwahrnehmung und das Gefühl, anderen überlegen zu sein.
• Bedürfnis nach Bewunderung: Ständiges Streben nach Aufmerksamkeit und Anerkennung von anderen.
• Mangel an Empathie: Schwierigkeit, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu verstehen oder darauf einzugehen
Die Krux: Viele normale Verhaltensweisen können – besonders in Konfliktsituationen – narzisstisch wirken:
- Eigene Grenzen setzen und "Nein" sagen
- Auf dem eigenen Standpunkt beharren
- Eigene Bedürfnisse äußern und verteidigen
- Sich selbst pflegen und Zeit für sich beanspruchen
Ein entscheidender Unterschied liegt in der Tiefe, Konstanz und dem Kontext dieser Verhaltensweisen. Echte narzisstische Störungen erkennt man an einem konsistenten Muster über Jahre und verschiedene Lebensbereiche hinweg – nicht an einzelnen Verhaltensweisen in einer Krisensituation. Das muss von einem Psychologen diagnostiziert werden - nicht vom Partner oder der Partnerin.
Die verborgene Agenda hinter dem Narzissmus-Vorwurf
In der tieferen Analyse von Beziehungsdynamiken zeigt sich oft, dass der Narzissmus-Vorwurf weniger eine diagnostische Beobachtung als vielmehr ein strategisches Instrument darstellt. In unseren Coachings erlebe ich regelmäßig, dass solche Zuschreibungen als ultimative Verantwortungsverschiebung dienen. Das erkläre ich dann meinen Klientinnen und Klienten, auch Julia.
Der Begriff wird zum unantastbaren Urteil, zur moralischen Überlegenheitsposition, aus der heraus der vorwerfende Partner sich selbst vollständig von jeder Mitverantwortung für die Beziehungsdynamik freispricht. Es entsteht ein binäres Narrativ: hier das unschuldige Opfer, dort der pathologische Täter – eine dramatische Vereinfachung, die die komplexe Wirklichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen verkennt.
Besonders aufschlussreich ist der Zeitpunkt, zu dem solche Vorwürfe erstmals auftauchen. Häufig geschieht dies in Phasen, in denen die beschuldigte Person begonnen hat, gesündere Grenzen zu setzen oder mehr Authentizität zu leben. "Als ich nach Jahren der Anpassung anfing, meine eigenen Bedürfnisse wieder wahrzunehmen und auszusprechen, kamen plötzlich diese Vorwürfe," berichtete Julia mit tränenerstickter Stimme.
Diese Muster lassen sich als paradoxe Reaktion verstehen: Je mehr eine Person ihre gesunde Autonomie zurückgewinnt, desto stärker wird der Versuch des kontrollierenden Partners, durch psychologisierende Etikettierungen die alte Machtbalance wiederherzustellen. Die Erkenntnis dieser Dynamik kann der erste befreiende Schritt sein, um aus dem Kreislauf der Selbstverurteilung auszubrechen und den eigenen Selbstwert wiederzuentdecken.
Ein differenzierter Blick: Die Spiegelübung
Um sich selbst besser einschätzen zu können, hat sich in meinen Coachings folgende Übung bewährt:
1. Notiere konkrete Situationen, in denen dir narzisstisches Verhalten vorgeworfen wurde
2. Beschreibe dein tatsächliches Verhalten möglichst neutral (Was hast du genau gesagt/getan?)
3. Reflektiere deine Intention (Was wolltest du erreichen?)
4. Frage nach alternativen Deutungen (Wie könnte ein wohlwollender Außenstehender die Situation interpretieren?)
Julia erkannte durch diese Übung: "Viele meiner Verhaltensweisen waren Versuche, in einer bereits toxischen Beziehungsdynamik zu überleben – nicht deren Ursache. Ich hatte begonnen, mich stärker abzugrenzen, weil mein Selbstwertgefühl durch seine ständigen Kritiken so erschüttert war."
Gaslighting: Wenn Vorwürfe zur Manipulation werden
Besonders bedenklich wird es, wenn Narzissmus-Vorwürfe selbst zu einer Form von Gaslighting werden. Manche Partner nutzen psychologische Begriffe als Waffe, um die Realitätswahrnehmung des anderen zu untergraben. Wenn jede Selbstfürsorge, jeder Wunsch nach Autonomie als "narzisstisch" abgestempelt wird, kann das zu tiefgreifender Verunsicherung führen.
Bei Julia führte genau dies zu einer gefährlichen Spirale: "Ich habe angefangen, mich für alles zu entschuldigen. Selbst für seine Ausbrüche. Meine Bedürfnisse zu unterdrücken. Mich selbst ständig zu hinterfragen – bis ich selbst nicht mehr erkannte, was für mich richtig und falsch ist."
Nach mehren Coachings fand Julia ihren Weg: "Ich habe verstanden, dass ich nicht perfekt bin – aber auch keine Narzisstin. Die Vorwürfe waren Teil einer Dynamik, die er für sich genutzt hat, aus der ich aber ausbrechen musste." Julia hat sich von ihrem Partner getrennt, auch weil er es nicht schaffte, seinen Anteil am Kippen der Beziehung zu sehen. Bis zuletzt war für ihn allein Julia an allem Schuld.
Ein Weg zurück zu gesundem Selbstwertgefühl
Die gute Nachricht: Selbstreflexion ist gesund und wichtig – zwanghafte Selbstverurteilung dagegen nicht. Der erste Schritt ist, zwischen berechtigter Kritik und manipulativen Vorwürfen unterscheiden zu lernen. Und sich dann zur Wehr zu setzen.
Statt dich von einem Label verunsichern zu lassen, konzentriere dich auf konkrete Verhaltensweisen. Frage dich: Verletze ich regelmäßig Grenzen? Bin ich empathiefähig? Kann ich Kritik annehmen? Achte dabei auf Muster, nicht auf Einzelsituationen. Oder gibt es nicht noch eine zweite Person in der Beziehung? Welche Rolle spielt sie?
Fühlst du dich durch Vorwürfe verunsichert und fragst dich, wie du Klarheit gewinnen kannst? In einem persönlichen Coaching unterstütze ich dich dabei, zwischen berechtigter Selbstreflexion und schädlichen Selbstzweifeln zu unterscheiden. Vereinbare gerne ein kostenloses Erstgespräch.