Soll ich oder soll ich nicht? Es gibt Dutzende Gebrauchsanweisungen im Internet, wann der richtige Zeitpunkt für eine Trennung gekommen ist. Bevor wir das entscheiden können, müssen wir aber erst einmal loslassen.
Was macht eigentlich ein Coach? Wenn mich Menschen dies fragen, vergleiche ich meine Arbeit gerne mit der eines Bergführers, der seine Seilschaft über Grenzen oder zu neuen Gipfeln bringt. Die Entscheidung über Richtung und Ziel treffen die Kunden. Der Bergführer begleitet sie auf diesem Weg. Er sichert sie in unbekanntem Gelände, kennt Abkürzungen und kleine Pfade, hilft ihnen über Gletscherspalten und zeigt ihnen, wo die Steigeisen anzulegen sind, oder was zu tun ist, wenn das Wetter umschlägt.
So können die Coachees neues Gelände erschließen, Veränderungen bewusst erfahren und daraus Entscheidungen ableiten. Allerdings muss klar sein: Der Bergführer ist kein Sherpa. Er trägt weder das Gepäck seiner Kunden noch nimmt er sie Huckepack. Gehen muss jeder selbst.
Und zu gehen, fällt gerade in Krisen wie vor, während oder nach einer Trennung nicht leicht. Denn wer sich vor dem fürchtet, was kommt, klammert sich an das, was er hat. An Erlebnisse, an andere Menschen oder auch an Beziehungen. Wir klammern uns an das bekannte Übel, von dem wir wissen, dass es keine Zukunft hat, anstatt loszulassen und nach neuen Möglichkeiten und Chancen zu suchen.
Die Allegorie vom Bergsteiger
Wie der Bergsteiger, von dem der Psychologe Jorge Bucay erzählt, der sich trotz Schneesturm an eine Gipfelbesteigung macht. Der Berg war schneebedeckt und das Gelände schwierig. Es stürmte und eigentlich hätte er umkehren sollen. Aber sein Ehrgeiz ließ das nicht zu. Schritt für Schritt kämpfte er sich nach oben. Und als er gerade an einer besonders schwierigen Stelle ein Sicherungsseil fixieren wollte, verlor er den Halt und stürzte ab. Meter um Meter fiel er und schlug immer wieder gegen den steinigen Fels. Sein ganzes Leben zog an ihm vorüber als er plötzlich mit seinen Händen das Sicherungsseil streifte. Instinktiv packte er zu und sein Fall kam wenige Augenblicke später mit einem Ruck zu Ende.
Der Bergsteiger hing am Seil in der Felswand. Noch immer stürmte es und das Schneegestöber machte eine Orientierung unmöglich. Was sollte er tun? Er rief um Hilfe, doch bei dem Sturm war eine Rettung aussichtslos. Sollte er sich am Seil hochziehen und sich damit selbst retten? Seine schmerzenden Arme machten ihm schnell klar, wie unmöglich das war.
Oder sollte er loslassen und seinem Leben damit wahrscheinlich ein Ende bereiten. Dieser Gedanke ließ Panik in ihm aufsteigen und er klammerte sich nur noch fester ans Seil. Minuten und Stunden vergingen und die Anstrengung wurde immer größer. „Lass los“, dachte er sich immer wieder, „diese Schmerzen sind doch sinnlos. Lass los.“ Und wieder packte er nur noch fester zu. Nichts und niemand auf der Welt würde ihn dazu bringen, freiwillig das loszulassen, was ihm offenbar das Leben gerettet hatte. Den Kampf führte er über Stunden fort, die Händen verkrampft um das Seil, das er für seine einzige Chance hielt.
Als der Sturm am frühen Morgen nachließ, fanden die Rettungskräfte den total erschöpften und halberfrorenen Bergsteiger, der sich mit seinem Leben noch immer an das Seil klammerte. Nicht mehr lange und er wäre wohl dort den Erfrierungstod gestorben. Als der Bergsteiger die Augen öffnete, sah er jetzt, wo das Seil endete: nur einen Meter über dem rettenden Erdboden.
Wir müssen uns von dem trennen, was uns gerettet hat
Manchmal bedeutet nicht loszulassen überspitzt gesagt den Tod. Wir müssen uns von dem trennen, was uns einmal gerettet, vor dem Absturz bewahrt hat. Aber wir tun es nicht. Wir leiden und halten an dem fest, was uns Schmerzen bereitet, uns unglücklich macht oder schon längst nicht mehr da ist.
So erging es auch Andrea, die eigentlich anders heißt. Über lange Jahre war ihr Partner ein fester Halt in ihrem Leben. Gemeinsam haben sie viel erlebt und so manche Herausforderung überstanden, ein Kind großgezogen und ein altes Bauernhaus gekauft und renoviert. Sie ist mit ihrem Partner nicht nur physisch zusammengezogen. Er ist auch psychisch bei ihr eingezogen und ist ein Teil von ihr geworden. Das macht es so schwer loszulassen, zumal der Schmerz in der Beziehung auch selten konstant ist. Sobald er für ein paar Augenblicke aufhört, entsteht wieder Hoffnung, dass alles doch noch gut wird.
Lange Jahre hat Andrea gebangt, gelitten und mit sich und der Trennung gerungen. Immer wieder hat sie sich und ihrem Partner eine letzte Chance gegeben und sich an ihr bekanntes Leben geklammert. Wenn wir aber krampfhaft an etwas festhalten, fühlen wir uns weder frei, die Beziehung zu verändern, noch können wir sie (wieder) genießen. Wir hoffen auf ein Wunder, dass sich die Situation ändert. Gleichzeitig spüren wir, wie uns die Beziehung entgleitet. Wir haben so viel in diese Beziehung investiert, vielleicht gibt es Kinder, ein Haus, einen gemeinsamen Freundeskreis. Und wir packen trotzig noch fester zu. Das Klammern bringt aber unweigerlich den Schmerz zurück. Wut, Angst, Verzweiflung sind die Folge.
Kein Wunder, dass Menschen, die in schlechten Beziehungen leben, viel häufiger unter chronischem Stress, körperlichen Schmerzen oder auch Schlafstörungen leiden als Menschen, die eine gute Beziehung führen. Auch Andrea ging es so. Die satten Farben verschwanden aus ihrem Leben. Wie eine Blume drohte sie zu verwelken, alles wirkte auf sie nur noch schwarz und grau.
Wichtige Aufgaben einer Partnerschaft sind eine gegenseitige Bestätigung und Anerkennung, Vertrauen, Schutz und eine positive Kritik. Und obwohl das fehlt, hält uns die Angst vor dem Alleinsein lange zurück, diese Leidenszeit zu beenden. Denn wenn es auch ein unangenehmes Gefühl ist, das alles zu ertragen, scheint es häufig viel weniger bedrohlich als die Leere und die Schuldgefühle, die durch eine Trennung entstehen. Wir halten an dem alten Übel fest um kein neues Übel ertragen zu müssen.
Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem?
Viele, die dann doch gehen, haben ihre Entscheidung erst nach Monaten und Jahren und einem langen Prozess der Trauer und des Aufgebens getroffen. Irgendwann wurde der Schmerz darüber, zu bleiben, stärker empfunden, als der Schmerz zu gehen. Sie waren nicht mehr ängstlich und wütend, sondern nur noch erschöpft und das Ganze leid.
Bei Andrea kam der Impuls als ihre Tochter auszog. Da merkte sie, so geht es nicht mehr weiter. Auch wenn ihr die beste Freundin den Rücken stärkte, suchte sie professionelle Unterstützung und startete in einen Coachingprozess: Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem?
Andrea stellte sich über die Wochen viele Fragen und stellte sich in Frage. Gestern kam der Anruf: Sie hat mir ihrem Mann das Gespräch gesucht und sich von ihm getrennt. Die ganze Situation sei so traurig gewesen und sie wisse, dass noch ein langer Weg zu gehen sei. Aber dennoch fühle sie sich seit Monaten erstmals wieder erleichtert.
Wann ist also der richtige Moment gekommen, um loszulassen? Und mit Loslassen kann auch ausdrücklich der Gedanke gemeint sein, sich von seinem Partner nicht zu trennen. Denn nicht für jede Klientin und jeden Klienten lautet die Antwort: Ich gehe. Auch diese Erkenntnis, das Loslassen des Trennungsgedankens kann befreiend sein, weil ich vielleicht noch nicht so weit bin oder weil ich das Gemeinsame nicht aufgeben möchte und ich es stattdessen beispielsweise mit einer Paartherapie noch einmal versuchen möchte.
Wann ist also der richtige Moment gekommen, um loszulassen? Für Menschen, die auf einen allgemeingültigen Ratschlag gehofft hatten, kommt jetzt vielleicht der enttäuschendste Satz in diesem Text: Den gibt es nicht. Denn dieser Moment ist etwas ganz Persönliches. Das ist wie mit dem Schmerzempfinden – was dem einen schon weh tut und Tränen in die Augen treibt, lässt die andere gerade einmal zucken.
Richtig oder falsch gibt es nicht. Lass Dich also nicht verleiten, allgemeingültige Ratschläge anzunehmen oder zu denken, wenn es so in diesem Buch steht oder jener Experte es sagt, „muss ich“ oder „darf ich nicht“ so fühlen oder handeln. Es ist Dein Leben, für das Du allein die Verantwortung trägst. Du weißt selbst am besten, wann der Moment gekommen ist, um loszulassen, auch wenn es auf dem Weg guttut, Unterstützung zu erfahren und einen erfahrenen und trittsicheren Bergführer an Deiner Seite zu haben, der die richtigen Fragen stellt.
Doch egal wie viel Mühe es kostet oder wie sehr es zu schmerzen scheint, loszulassen und wieder von neuem den Aufstieg zu beginnen, ist es doch gut zu wissen, dass ein gesunder Erwachsener mit jeder Art von Verlust fertig werden kann. Auch mit diesem.