Es ist ein paar Tage her, dass mir ein Klient von seiner zweijährigen Tochter erzählte. „Die ist gerade so anstrengend“, stöhnte er, „Trotzphase, wissen Sie…das jetzt auch noch, bei dem ganzen Beziehungsstress, den ich derzeit habe.“
Ich fragte ihn, warum er seine Tochter so anstrengend findet. Ihr Gefühlschaos, meinte er, ständig sei etwas anderes. In der einen Sekunde sei sie froh, lache und drücke ihn, um einen Augenblick später durch die Küche zu wüten und Dinge durch die Luft zu werfen oder verzweifelt in der Ecke zu stehen und herzzerreißend zu heulen, wenn irgendetwas nicht nach ihrem Kopf gehe.
„Ja, das klingt anstrengend“, antwortete ich ihm, „und gleichzeitig ist das doch auch toll.“ Mein Klient zog die Augenbrauen zusammen: „Was ist denn daran toll?!“
„Die Offenheit, wie sie ihnen ihre Gefühle zeigt, ihnen mitteilt, wie es ihr gerade geht“, sagte ich zu ihm. „Haben Sie das nicht bemerkt?“
Kleinkinder wissen noch nicht, wie man Gefühle unterdrückt. Wenn sie jemanden mögen, zeigen sie es ihm. Genauso, wenn sie jemanden nicht mögen. Wenn sie traurig sind, weinen sie, und wenn sie froh sind, lachen sie aus vollem Herzen.
Wie heißt es so schön: Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit. In diesem Satz stecken gleich zwei Wahrheiten. Kinder sind in ihren ersten Jahren unverstellt und ehrlich. Erwachsene sind es vor allem dann, wenn sie sich berauschen (oder durch Suchtmittel die Kontrolle verlieren). Denn wir Erwachsenen haben diese Offenheit oftmals verlernt bzw. wurde sie uns in unserer Kindheit aberzogen. „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, hieß es da, „du musst doch nicht traurig sein“ oder „reiß dich mal zusammen“. Die Botschaft war: Gefühle zeigt man nicht, schon gar nicht vermeintlich negative wie Wut, Trauer und Schmerz.
Aber warum ist das so? Warum erfordert es so viel Mut, seine Gefühle dem anderen mitzuteilen? Ist es nicht vielmehr so, dass eine Beziehung zu einem anderen Menschen, die auf der Kontrolle der Gefühle aufbaut, überhaupt nicht funktionieren kann? Ich frage mich zunehmend, warum wir solche Angst davor haben, offen und ehrlich zu sein. Klar, wir wollen niemanden verletzten. Und noch viel weniger wollen wir von anderen verletzt werden.
Aber ist das nicht sehr kurzfristig gedacht? Denn letztendlich verhindern wir damit, dass uns der andere so kennenlernt, wie wir wirklich sind. Und wir tragen Dinge mit uns herum, die eigentlich gesagt werden müssten. Die Quittung dafür kommt dann eben später. Denn wer möchte sich sein restliches Leben verstellen. Selbst wenn ich das fest vorhabe, wird das nicht funktionieren. Irgendwann kommt der Moment, in dem man die Contenance verliert, die Fassung, und sich das wahre Ich zeigt. Warum also nicht gleich.
Der Psychologe Dr. Leon Windscheid vergleicht Gefühle mit einem Wasserball, den man mit mehr oder weniger Anstrengung unter Wasser drücken kann. Von außen sieht es so aus, als wäre der Ball weg. Und vielleicht glaubt man das selbst – bis der Ball an gleicher oder anderer Stelle mit Wucht wieder nach oben kommt. Selbst wenn ich es schaffe, dass mein Gegenüber dieses Auftauchen nicht bemerkt, werde ich es spüren, etwa in psychosomatischen Beschwerden, wenn es mir auf den Magen schlägt, ich Rücken habe, das Herz schmerzt oder ich mir den Kopf zerbreche.
Wir sollten Wut, Trauer, Angst, Neid oder Eifersucht nicht weg- oder unterdrücken, auch wenn wir das in unserer Kindheit vielleicht vermittelt bekamen. Gefühle sind nichts Schlechtes, das man verbessern oder ändern müsste. Wut ist einfach Wut, Angst ist Angst und Trauer ist Trauer. Gefühle sind zum Fühlen da. Sie sind wie Wellen im Ozean. Man kann mit ihnen schwimmen und auf ihnen surfen. Oder man kann gegen sie ankämpfen und sich von ihnen in die Tiefe reißen lassen.
Damit wir uns nicht missverstehen. Dieser Text ist kein Plädoyer dafür, sich von seinen Gefühlen beherrschen zu lassen – und künftig im Stile eines Kindes in der Trotzphase durch das Leben unserer Mitmenschen zu wüten und zu toben. Es geht darum, sich und seine Gefühle zu spüren und sie (anders) wahrzunehmen. Ich kann einfach wütend sein und mich von der Wut wegtragen lassen, ausrasten, toben, schreien, Dinge werfen. Oder ich kann meine Wut wahrnehmen, sie fühlen und mich fragen, was die Ursache dieser Wut ist und warum dieses Gefühl nach draußen will. Vielleicht steckt ein Schmerz hinter dieser Wut, eine Kränkung oder Neid. Etwas oder jemand tut uns weh, das wollen wir nicht, deshalb wehren wir uns mit Wut.
Und ja, dabei laut zu werden ist auch mal in Ordnung, wenn ich mir dem bewusst bin. Das Gute etwa an der Wut ist ja, sie gibt uns Mut, vertreibt Ängste und gewohnte Verhaltensweisen. Das brave Mädchen wird zur tobenden Frau, der verständnisvolle Mann wird zum rohen Kerl. Wir können über uns hinauswachsen. Wir sollten diese Energie jedoch nicht in destruktiver Weise nutzen, um zu verletzen oder zu zerstören. Wenn es ein Ventil braucht, warum nicht den Garten umgraben, die Wohnung putzen oder einen Halbmarathon laufen – um dann die Veränderung anzugehen.
Oder ich stelle fest, dass es gar nicht mein Gefühl ist, dass da an die Oberfläche möchte, sondern dass ich beispielsweise das Gefühl von Ungerechtigkeit oder Kränkung von einem nahestehenden Menschen übernommen habe und ich mit ihm fühle. Dann sollte ich dieses Gefühl an diese Person zurückgeben, um mich wieder selbst zu spüren. Denn eines ist noch wichtig: Wir können niemandem sein Gefühl abnehmen. Wir können unterstützen. Fühlen muss aber jeder selbst – gerade in Krisenzeiten vor, während oder nach einer Trennung.
Es ist Zeit, sich seinen Gefühlen (wieder) mehr zu öffnen und ihnen Ausdruck zu verleihen – mehr wie die Kinder, die ganz natürlich sich gegenseitig ihre Gefühle mitteilen. Dafür muss ich natürlich wissen, um welches Gefühl es sich handelt, das gerade in mir rumort.
Achtsamkeitsübungen wie Meditationen, Autogenes Training oder die progressive Muskelentspannung nach Jacobson können dabei helfen, die eigenen Gefühle zu ergründen und ihnen einen Namen und eine Stimme zu geben. Oder auch diese kleine Übung, die ich für euch rausgesucht habe und immer wieder auch meinen Klienten empfehle.
Gefühle sind zum Fühlen da:
Suche dir einen ruhigen, bequemen Platz, deine Couch oder dein Bett. Stell dir gerne einen Wecker. Zehn oder 15 Minuten. Lege dich hin und schließe die Augen. Beobachte deinen Körper, deine Gefühle und nimm alles bewusst wahr:
• Spüre, wie du auf dem Bett oder der Couch liegst
• Spüre, die Matratze und die Kissen unter dir
• Spüre, deinen Kopf, deinen Rücken, die Beine und deine Füße
• Spüre, wie deine Hände sich anfühlen
• Spüre, wie du atmest, wie sich deine Brust und dein Bauch heben und senken
• Atme ein, atme aus! Atme ein, atme aus!
• Fühle deinen Herzschlag
• Welche Gefühle spürst du?
• Spüre den Kloß im Hals, das flaue Gefühl im Magen oder die Wut im Bauch
• Oder ist es ein anderes Gefühl, das sich seinen Weg bahnt
• Wo spürst du dieses Gefühl? Wie fühlt es sich an?
• Fühle, wie die Angst (oder ein anderes Gefühl) präsenter und deutlicher wird
• Nimm dieses Gefühl ganz bewusst als solches wahr. Gib ihm einen Namen.
• Atme, spüre, lerne es kennen!
Lass das Gefühl da sein! Verändere nichts! Misch dich nicht ein! Bewerte es nicht!
Und wenn Gedanken kommen, beobachte diese und lasse sie wieder gehen.
Am einfachsten funktioniert das, indem du deine Aufmerksamkeit wieder auf deine Atmung lenkst und du diese beobachtest. Atme ein, atme aus. Ganz bewusst. Atme ein, atme aus.
Und dann lass die Gefühle wieder zu. Spüre ihnen nach. Lass sie sein.
Wenn wir uns öffnen, um unsere Wut, die Angst, die Trauer, unseren Schmerz (endlich einmal) zu fühlen, kann das sogar ein schönes Erlebnis sein, weil es Blockaden löst. Endlich darf der Wasserball nach oben steigen. Unsere Gefühle werden nicht länger unterdrückt und zum Beispiel der Trennungsschmerz kann endlich anfangen, abzuheilen. Denn der Schmerz hört auf, sobald ich den Verlust verarbeitet habe und das aufgebe, was nicht mehr ist – ganz egal ob ich verlassen wurde oder selbst gegangen bin.
Auch in anderen Situationen hilft es, sich zu öffnen und seine Gefühle den anderen ehrlich mitzuteilen. Aufrichtig zu sein, erfordert Mut, zumal wir nicht beeinflussen können, wie der andere reagiert. Die Reaktion der anderen ist aber sowieso ihre Sache, so wie wir allein für unsere eigene Reaktion verantwortlich sind. Sich den Kopf der anderen zu zerbrechen, lohnt nicht.
Haben wir jahrelang eine andere Beziehung geführt, in der wir unsere wahren Gefühle verborgen haben, kann diese Verhaltensänderung zum Gegenteil führen. Wir kommen dem Partner nicht näher, sondern dieser versteht die Welt nicht mehr. Gefühle – was soll das?! Haben wir nicht schon genug Probleme?!
Wir sollten uns niemals schuldig fühlen, weil wir unsere Gefühle ausdrücken, und wir sollten niemals anderen Schuldgefühle machen, weil sie den Mut haben, offen und ehrlich zu sein. Ganz im Gegenteil, nachdem wir damit bei uns angefangen haben, sollten wir auch andere ermutigen, das zu tun. Denn wenn man in einer Beziehung verharrt, in der man nur des lieben Friedens willen, nicht offen und ehrlich ist, ist sie es dann überhaupt wert, gelebt zu werden? Ich denke nicht.