Geschichten haben Kraft. Sie lassen uns lachen oder weinen. Sie öffnen die Tür zu unserem Inneren und halten uns den Spiegel vor. Deshalb arbeite ich in meinen Coachings gerne damit.
Von Torsten Geiling
Es kommt immer wieder vor, dass mich Klientinnen und Klienten nach einem Buchtipp fragen. Sie erwarten dann, dass ich ihnen einen Ratgeber empfehle, eine Selbsthilfe-Fibel oder vielleicht sogar eine psychologisches Fachbuch.
Meistens tue ich das aber nicht. Ich frage stattdessen: „Welche Kinderbuch-Klassiker haben sie denn zuhause?“ Worauf ich oft Erstaunen oder Unverständnis ernte. „Haben Sie mich richtig verstanden?“ hakte eine Klientin unlängst nach, mit der ich am erarbeiten bin, wer sie eigentlich als Person ist, abgesehen von einer unglücklichen Ehefrau und Mutter zweier fast erwachsener Kinder. Ich sagte, das hätte ich, und antwortete ihr: „Wenn ich Antworten suche, blättere ich gerne in den Büchern meiner Kinder oder Kindheit.“
Der Schlüssel zu unseren Gefühlen
Ich begebe mich mit dem kleinen Tiger und dem Bären auf die Suche nach Panama, höre der kleinen Maus Frederick zu, wenn sie von den gesammelten Farben erzählt, begebe mich mit Momo auf die Jagd nach der verlorenen Zeit oder werfe einen Blick in die Märchensammlung der Gebrüder Grimm.
Dann erwischt es mich jedes Mal. Denn Geschichten, die man uns in der Kindheit erzählt hat oder die wir schon damals gelesen haben, sind der Schlüssel zu unserem Inneren, zu unserem Ich. Auch als Erwachsene können sie uns begleiten und helfen, unser Denken, Fühlen und Handeln zu entschlüsseln und zu verarbeiten, indem sie eine direkte Brücke zu unserem Herzen bauen, und die Logik unseres Verstandes ausblenden.
Der ist oftmals eher ein Problem als eine Hilfe. Wir sind zu verkopft, vertrauen auf das Wertesystem der Gesellschaft und Familie, in der wir aufgewachsen sind, ohne zu hinterfragen und zu erfühlen, ob es auch unseres ist. Geschichten können dabei helfen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Oft gelingt damit ein Perspektivwechsel
Ich verstehe mein Coaching als Hilfe zur Selbsthilfe. Gerade deshalb arbeite ich in meinen Stunden gerne mit Geschichten oder Szenen daraus und mit anonymisierten Erfahrungen anderer Klientinnen und Klienten. Oft gelingt es den Klientinnen und Klienten dadurch eine Problemstellung zu externalisieren, neu zu betrachten und dann auf sich selbst anzuwenden.
Und warum ist das so? Weil Menschen Menschen vertrauen, nicht Zahlen, Daten Fakten. Wut, Liebe, Trauer, Freude, Angst – das sind die Riemen und Antriebskräfte unseres Lebens. Ohne Emotion gibt es keine Aktion. Die Tür zu dieser Erkenntnis öffnen Anekdoten, Geschichten, Märchen. Oder wie der Gestalttherapeut Jorge Bucay in einem seiner Bücher schreibt: „Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen – Erwachsenen, damit sie aufwachen.“
Beispielsweise Märchen. Die sind nicht nur bloße Unterhaltung mit Gruselfaktor. Die meisten Märchen sind vor Jahrhunderten entstanden, um uns davor zu warnen, den falschen Weg einzuschlagen, und etwas aus dem zu machen, was wir sind, und nicht aus dem, was wir gerne wären. Sie tragen eine Moral in sich, lassen dabei aber immer einen Raum für Interpretationen, einen magischen Spalt, der eine Verknüpfung zu uns und unserem Leben schafft. Ähnliches gelingt nur noch Gedichten und Liedern. Oder eines meines Lieblingsbücher, das ich meiner Klientin empfohlen hatte: Das kleine Ich-bin-ich.
Wer vergisst, wer er ist, der ist dumm
Das kleine Ich-bin-ich ist ein kleines, nicht näher bestimmbares buntes Tier, dass auf der Suche nach seiner Identität ist. Jedoch weiß das kleine Ich-bin-ich keine Antwort und fragt verzweifelt verschiedene Tiere, ob diese wüssten, wer es ist. Es fragt Fische, Pferde, Hunde oder einen Laubfrosch. Der sagt: „Wer nicht weiß, wie er heißt, wer vergißt, wer er ist, der ist dumm!“ Bumm.
Immer wieder wird das Ich-bin-ich auf seiner Suche zurückgewiesen und verspottet, es erfährt aber auch Hilfsbereitschaft und Wohlwollen. So spricht beispielsweise das Nilpferd: „Wer du bist, das weiß ich nicht. Zwar sind deine Stampferbeine so wunderschön wie meine aber sonst, du buntes Tier, ist rein gar nichts wie bei mir. Pony-Fransen, Dackel-Ohr, so was kommt bei mir nicht vor“.
Im Verlauf der Geschichte entwickelt sich das kleine Ich-bin-ich vom unsicheren Tier zum selbstbewussten Ich. Die Begegnungen mit den anderen Tieren machen es stärker und es lernt, die Meinung der anderen zu ignorieren. Am Ende versteht es seine Einzigartigkeit und ist stolz darauf.
Selbstwert fängt bei einem selbst an
„Stolz auf mich, war ich schon lange nicht mehr“, sagte mir die Klientin in der nächsten Stunde, nachdem sie das Buch aus einer Kiste ihrer Kinder vom Dachboden geholt hatte. „Wer hat das verhindert?“, fragte ich sie. Die Klientin überlegte kurz: „Das war ich schon selbst. Aber auf was sollte ich auch stolz sein. Ich habe zwar studiert, dann aber geheiratet und nie in meinem Beruf gearbeitet. Ich war nur Hausfrau und Mutter. Mehr nicht!“
„Mehr nicht?! Ich finde das ziemlich viel“, sagte ich ihr. „Ohne dich hätte dein Mann sicherlich nicht diesen Karriereweg einschlagen können. Ohne dich wären deine Kinder ganz anders aufgewachsen. Ohne dich hätte es deine Familie in dieser Form nicht gegeben. Du warst das Zentrum, das Hirn und das Herz. Findest du das wenig?“
Die Klientin hatte Tränen in den Augen. „So habe ich das bisher noch nie gesehen. Und mein Mann hat mich auch nie spüren lassen, dass er das so sieht. Im Gegenteil: er hat mich immer klein gemacht.“ Ich sagte: „Er sieht es wahrscheinlich auch nicht. Das wäre zwar schön, wenn er es denn täte. Aber hier geht es erst einmal nicht um ihn, sondern um dich und dein Selbstwertgefühl. Darum zu wissen, dass du wertvoll und unersetzlich bist, dass du alles Gute dieser Welt verdient und auch alles Recht hast, dich zu verändern und dich weiterzuentwickeln. Immer wieder. Wie das kleine Ich-bin-ich. Das musste auch erst erkennen, dass der Schlüssel zu einem glücklichen Leben bei ihm selbst und seiner Sicht auf die Dinge liegt. So eine Einstellung zu sich selbst entwickelt sich nicht von allein. Man kann aber daran arbeiten. “
Die Klientin putzte sich die Nase, schnaufte tief durch und sagte: „Dann lass uns anfangen.“